Ivan Cangelosi

Die Handschrift zwischen künstlerischem Medium und Zeitempfinden

von Ivan Cangelosi

Wenn wir mit der Hand schreiben, hinterlassen wir auf dem Papier nicht nur ein grafisches Zeichen, sondern eine Spur von uns selbst. Tatsächlich sagt die Handschrift viel über uns aus, sie gibt unmittelbare Hinweise auf unsere Persönlichkeit und unseren Gemütszustand. Darüber hinaus ist Schreiben an sich eine “künstlerische” Geste, da es das Ergebnis einer Verkettung von Graphemen ist, die nach einem Stil angeordnet sind.

Kunst mittels Wörtern zu schaffen ist etwas, das seine Wurzeln in der Kunstgeschichte hat. Die Miniaturisten und Schriftgelehrten des Mittelalters, zum Beispiel, wussten genau, dass Wörter sowie Bilder auch dazu da waren, gesehen zu werden, eine Vorstellung, die von den künstlerischen Avantgarden der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Zeit aufgegriffen wurde, in der eine Debatte über die visuelle und expressive Kraft der Sprache als neues Medium des künstlerischen Schaffens begann.

Die Handschrift stellt bekanntlich eine Form der Selbsterziehung des Denkens dar, sie lässt Raum für Vorstellungskraft, Lernen, Reflexion. Und sie lässt auch Raum für unsere eigene Zeit.

Die Zeit ist vielleicht das Einzige, das wir wirklich besitzen, weil sie die immaterielle Substanz ist, aus der wir gemacht sind. Unser Körper ist zeitlichen Abläufen unterworfen, er verändert sich und altert und zeigt uns dadurch, dass die Zeit vergeht. Aus Zeit ist gleichfalls unser Geist gemacht, der uns durch das Gedächtnis daran erinnert, wer wir sind und wer wir waren. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Gedächtnis vollständig; Sie werden feststellen, dass Sie sich mitsamt dem Gedächtnis und der darin enthaltenen Zeit, selbst verlieren würden. Wir und unsere Zeit sind ein und dasselbe und in diesem Sinne, ist eine Zeitverschwendung nichts weiter als eine Selbstverschwendung. Sie bedeutet, sich zu verirren und sich wegzuwerfen.

Das Schaffen von Kunst durch das Medium der Handschrift hat daher eine Bedeutung, die über den kreativen Prozess tout court hinausgeht; beim Schreiben ist es, als ob ich das Verstreichen der Zeit bis zu ihrer magischen Darstellung in einer Art “Tempogramm” grafisch begleitete, einem Pfad, in dem die Spitze des Stifts das winzige geometrische Auf und Ab der Schrift auf dem Papier fixiert und idealerweise seinen Fluss fest hält. Es ist auch dieser Geste zu verdanken, dass ich meine Zeit voll genießen, sie in mir fließen spüren und ihrem Fließen, vom Schlagen meines Herzens geprägt, lauschen kann. Eine Geste, die des Schreibens mit der Hand, die in der Komposition meiner Werke die Prinzipien des linearen Zeitflusses aufgreift, insbesondere die Unmöglichkeit, zurückzugehen und etwas zu ändern, was bereits passiert ist. Die Art und Weise, wie die Arbeit ausgeführt wird, lässt tatsächlich keinen Raum, um das Geschriebene oder Gemalte zu überdenken oder zu retuschieren. Ein „Tippfehler“, der in meinem Fall nicht nur semantischer, sondern vor allem „chromatischer“ Natur sein kann, würde dabei bleiben, gerade weil die besondere Struktur des Werkes ein „Umschreiben“ (und damit ein Umfärben) von dem was auf dem Papier bereits markiert ist, nicht zulässt.

Ich betrachte Zeit daher als das Hauptmaterial, aus dem meine Arbeiten bestehen. Eine Zeit, die durch die sorgfältige Arbeit, die zur Entstehung des Kunstwerks führt, sich materialisiert und sichtbar wird. Diese Erkenntnis, wird auch durch die besondere Neugier des Beobachters der Arbeit bestätigt, welcher sich (und mich) immer wieder fragt wieviel Zeit für die Fertigstellung eines Gemäldes notwendig war.

Auch für den Betrachter scheint die „Zeit“ (d.h. etwas Ungreifbares, Ätherisches und doch irgendwie Gegenwärtiges) daher der unmittelbar ersichtliche Aspekt zu sein, der als das Material wahrgenommen wird, aus dem das Werk besteht.