Ivan Cangelosi

Otto Hans Ressler, Kunstkritiker – Direktor Ressler Kunst Auktionen Wien

Bild gewordene Weltliteratur

Die Scripturings von Ivan Cangelosi

 

Vor ein paar Jahren erschien ein Buch, das mehr als tausend Antworten berühmter Philosophen und Künstler auf die Frage versprach, was denn Kunst eigentlich sei. Aber auch die Summe der Zitate vermochte diese Frage nicht wirklich zu klären. Die Thesen widersprechen einander zum Teil diametral, und tatsächlich muss davon ausgegangen werden, dass, selbst wenn es gelänge, eine gültige Definition zu finden, schon am nächsten Tag ein Künstler herginge und etwas machte, worauf diese Definition nicht zuträfe.

Die Frage, was Kunst ist, hängt ursächlich zusammen mit der Frage der Qualität von Kunst. Und diese Frage ist deshalb von Relevanz, weil im Kunstbetrieb ständig davon gesprochen wird; nicht selten, um den Preis eines Kunstwerks zu begründen. Da aber offenbar nicht einmal eine Definition gefunden werden kann, was Kunst ist, sind Aussagen über ihre Qualität noch viel stärker von wechselnden Meinungen und nicht verifizierbaren Behauptungen bestimmt.

Dieter Ronte, ehemals Direktor des Museums moderner Kunst in Wien, hat dieses Phänomen so beschrieben: „Die Insider wissen sich ein und derselben Wertsphäre verbunden. Je engagierter sie an den Wertbildungen der Sphäre beteiligt sind, desto subtiler können sie mit der Sphärengrammatik umgehen. Sie entwickeln eigene Codes und Sprachen, die nur den Insidern selbst vertraut sind. Dadurch schützt sich die Wertsphäre nach außen; der Sprachunkundige wird zum Banausen.“

Leider hilft dies bei der Klärung unserer Frage nur wenig; im Gegenteil, die Verwirrung wird dadurch nur noch größer. Denn Dieter Ronte sagt nichts anderes, als dass es im Grunde überhaupt keine Qualitätskriterien gebe, sondern lediglich das, was die Markt-Insider untereinander (meist stillschweigend) vereinbart haben. Weist man diese Vorstellung zurück, verweigert man sich also den Codes der Insider, bleibt – nichts. Nichts, als dass die Kunst und ihre Betrachtung lediglich das Ergebnis purer Subjektivität seien, die allenfalls andere Leute beeinflusst.

Mit dieser Sichtweise will ich mich nicht abfinden. Menschen sind soziale Wesen. Wir vermögen, unsere eigene Wirkung auf andere und die Reaktionen anderer vorherzusagen und in unsere Handlungen mit einzubeziehen. Deshalb unterhalten wir permanent differenzierte Beziehungen zu unseren Artgenossen.

Die Kunst nimmt einen viel zu zentralen Platz in unserem Leben ein, in unserer Wahrnehmung der Welt, um auf ein pures individuelles, nicht austauschbares Bewusstsein reduziert zu sein. Deshalb bin ich überzeugt, dass es objektive Kriterien für die Feststellung der Qualität von Kunst geben muss und auch gibt. An den Bildern von Ivan Cangelosi möchte ich diese Kriterien herausarbeiten und bemessen.

Eines – und ein ganz wesentliches – Kriterium ist die Innovation, die einem Werk zugrunde liegt. Das heißt: Der Künstler muss einen originären Stil finden, eine eigene Formensprache entwickeln. Erst Form und Gestaltung machen eine Thematik zum Kunstwerk. Das Thema und der Inhalt sind im Grunde sekundär. Denn die Vermittlung eines bloßen Inhalts ist noch kein Kunst-Ereignis, sondern eine Sache der Wissenschaft, der Reportage, der Information, der Dokumentation.

Ivan Cangelosi erfüllt die Forderung hoher stilistischer Eigenständigkeit in extremer Weise: Er malt seine Bilder nicht, wie tausende Maler vor ihm, er zeichnet seine Bilder nicht, wie tausende Grafiker vor ihm, sondern hat etwas entwickelt, das er „ScrittuArte“ bzw. „WritingArt“ oder auch „Scripture-Art“ oder „Scripturing“ nennt: Er „schreibt“ seine Bilder. Das ist nicht nur originell, sondern geradezu originär – jedenfalls kenne ich keinen anderen Künstler, der sich dieser Technik bedient.

Man muss schon sehr nahe an die Bildoberflächen herangehen, um diese Technik überhaupt begreifen zu können; und wahrscheinlich reicht auch das nicht, um zu verstehen, was hier geschieht. Erst wenn man den Künstler selbst dabei beobachtet, wenn er mit mehreren verschiedenfarbigen Tinten, Stiften und Kugelschreibern zwischen den Fingern seine Bilder „schreibt“, gelingt es, zumindest an der Oberfläche dieser Technik zu kratzen.

Als Basis seines „Schreibens“ von Bildern zieht Ivan Canelosi Romane der Weltliteratur heran: „Narziss und Goldmund“ von Hermann Hesse. „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde“. Animal Farm“ von George Orwell. „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre. „Das Muster des Verbrechens“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Usw. usf. Cangelosi greift aber auch Themen jenseits der Weltliteratur auf, z. B. bei seinem Gemälde „My colors of your clothes“, mit dem er Menschenhandel und die Ausbeutung von Kinderarbeit thematisiert. Das Bild ist bei den Vereinten Nationen permanent ausgestellt.

Aber auch seine Auseinandersetzung mit berühmten Romanen, Romanen, die jeder Mensch gelesen haben sollte, läuft nicht auf eine Illustration hinaus, sondern stellt eine sehr individuelle Auseinandersetzung des Künstlers mit dem jeweiligen Text dar. Er „beschreibt“ das Thema nicht, er gibt es nicht wieder, sondern stellt Assoziationen her, die einen ganz neuen Blick auf das, was man bereits gut zu kennen glaubt, ermöglichen.

Und damit deckt Ivan Cangelosi ein weiteres Kriterium ab, das ein Kunstwerk aufweisen sollte: das Thema, dem er sich widmet. Wie Ivan Cangelosi das macht, nimmt Bezug auf unsere Zeit, unterwirft sich aber dennoch nicht dem Zeitgeist. Ohne Modetrends zu folgen, repräsentiert es geistige Zeitströmungen.

 

Das ist deshalb so wichtig, weil, wenn Kunst eine Sprache ist, sie auch verstanden werden muss. Die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter und seinen Assoziationen ist vom Kunstwerk nicht zu trennen. Damit es eine Bedeutung für uns hat, muss es von uns „gelesen“ werden können; es muss für uns interpretierbar sein. Und da unsere Interpretation auf den gemeinsamen Vorstellungen und Werten einer Epoche beruhen, müssen sie darauf Bezug nehmen.

All diese Anforderungen erfüllen die Bilder Ivan Cangelosis in höchstem Maße, und in der Art, wie sie sie erfüllen, geht der Künstler seinen eigenen, unverwechselbaren Weg, ohne auf den Markt und die erfolgversprechendsten Methoden zu schielen.

Ein weiteres, entscheidendes Kriterium dafür, ob wir es mit einem Kunstwerk zu tun haben oder nicht, besteht in seiner Ästhetik.

„Ästhetik ist die Grundbedingung der Kunst: Fehlt einem Werk der ästhetische Gehalt, so kann man es, von der Definition her, nicht als künstlerisch bezeichnen.“ Robert Motherwell, von dem dieses Zitat stammt, ist ein völlig unverdächtiger Zeuge dafür, dass es bei der Kunst nicht um oberflächliche „Schönheit“ geht, sondern um etwas, das tiefer, viel tiefer liegt. Aber es ist und bleibt das Anliegen der Kunst, Natürliches an Gestaltung übertreffen zu wollen.

Eine Kunst, die nicht ästhetisiert, ist ephemer. Dass Kunst „schön“ ist, ist gleichzeitig auch die Voraussetzung dafür, dass sie Trends und Moden übersteht, dass sie ästhetisch und ideell wertbeständig bleibt. Natürlich gab und gibt es darüber, was „schön“ ist, zu allen Zeiten und Weltgegenden sehr unterschiedliche Auffassungen. Dennoch bleibt, dass die ästhetischen und kompositorischen Prinzipien, die ein Künstler verfolgt, wichtig, ja entscheidend sind für die Qualität dessen, was er schafft – und zwar jenseits unserer konventionellen Vorstellung von „schön“ und „hässlich“. Ganz wesentlich ist dabei, ob ein Bild neue ästhetische Maßstäbe setzt.

Auf den ersten Blick erscheinen die Bilder Ivan Cangelosis in durchaus konventionellem Sinn als „schön“, als geschmackvoll, als stilvoll, als vollendet, als harmonisch. Aber sieht man diese Bilder länger und genauer an, erkennt man ihre Zweideutigkeit. Von der Kunst der Moderne wird diese Widersprüchlichkeit erwartet, ähnlich der rhetorischen Figur des Oxymorons. „Zweideutigkeit als System“ ist der Wesenszug großer Kunst. Plakative Aussagen sind ohne Kunstreiz. Mit anderen Worten: Ohne zwiespältige Emotionen kann sich keine Kunstwirkung entwickeln. Was auf den ersten Blick als gemütvoll erscheint, als vertraut, wird, je genauer man schaut, immer weniger eindeutig – und damit hinterfragbar.

Der Grund für diese Wirkung liegt nicht im Thema, nicht im äußeren Schein, in dem sie sich präsentiert, sondern in ihrer Technik. Die Methode des Schreibens von Bildern offenbart uns bei genauerer Auseinandersetzung eine Brüchigkeit, die sich dem flüchtigen Blick verschließt.

Wenn man die Bilder Ivan Cangelosis sieht, kann man kaum glauben, dass sie nicht gemalt, nicht gezeichnet, sondern „geschrieben“ wurden. Je genauer man hinsieht, desto verblüffter erkennt man, dass sich jedes Bild aus Tausenden, ja Millionen winziger Zeichen zusammensetzt. Und dabei handelt es sich nicht einfach um ein willkürlich angeordnetes Buchstaben-Gekritzel, nicht nur als eine Anordnung von ganzen Worten oder Sätzen, sondern um die Verbildlichung eines ganzen Romans mit hunderten Seiten.

Das Beeindruckende dabei ist nicht so sehr der ungeheure technische Aufwand, hunderte Seiten, zigtausende Worte, hunderttausende Zeichen in ein Bild zu verwandeln. Das wirklich Beeindruckende ist, dass vor unseren Augen diese Zeichen, Worte, Sätze plötzlich eine ganz neue Bedeutung erlangen. Ihre Metamorphose ist, wenn wir sehr genau schauen, noch nachvollziehbar – tatsächlich kann man den Roman noch lesen, wenn man sich sehr bemüht. Aber was viel stärker wirkt, ist, dass dieser Roman tatsächlich noch im Bild vorhanden ist, dass er seine Aura nicht verloren hat, sondern sich durch die Transkription in etwas ganz Anderes, Neues verwandelt hat.

 

Ivan Cangelosi schafft mit seinen Bildern eine ganz eigenartige Verzauberung. Er führt uns einerseits zurück in die Anfänge des Schreibens, als die Schrift – als Kalligrafie – noch eine Kunstgattung war und als solche weit über den Inhalt hinauswies. Aber noch stärker wirkt, dass Bücher, die uns sehr viel bedeuten und mit denen wir ganz bestimmte Vorstellungen verbinden, in uns plötzlich ganz neue Assoziationen wecken; Assoziationen des Künstlers Ivan Cangelosi, der diese Texte nicht einfach illustriert hat, der nicht einfach einen Aspekt, der ihm wichtig erschien, ins „Bild“ gesetzt hat, sondern ihnen dadurch, dass er aus ihnen eine Art modernen Wandteppich macht, eine raffinierte Stickerei aus Buchstaben, eine ganz neue Deutung entlockt.

Ivan Cangelosi gelingt mit seinen „geschriebenen“ Bildern etwas wirklich Außergewöhnliches: Er verbindet Literatur mit Kunst, genauer: er macht aus Literatur Kunst. Er stellt damit eine Verbindung her zwischen den einzigen beiden Fähigkeiten, über die nur der Mensch verfügt; und macht damit deutlich, dass das, was uns von jeder anderen Spezies auf diesem Planeten unterscheidet, die Literatur und die Kunst, die höchsten Formen unserer Ausdrucksmöglichkeit sind; oder, wie es Josef Brodsky, der 1996 verstorbene russisch-amerikanische Literatur-Nobelpreisträger ausgedrückt hat: Die Bestimmung unserer Art.

Die Bestimmung unserer Art ist die Kunst. Das Ziel der Evolution ist die Schönheit. Ivan Cangelosis Bilder bringen uns dieser Bestimmung, diesem Ziel ein gutes Stück näher.

Otto Hans Ressler

10.10.15